Kapitel 6. Golgotha, der Scheißdämon

30. September.
Unser Zimmer hat mehrere Abteile. Nikita und ich stehen im größten und schauen uns in stummer Verblüffung an.
Der Raum ist einfach nur vermüllt. Nikita kam früher an und hatte sich bereits das einzig anständige von den zwei verfügbaren Betten gesichert. Es ist ein Etagenbett, aber nur unten ist eine Matratze.
Das andere Bett, ein Einzelbett, ist mit einer schmutzigen, feuchten grünen Schaumstoffmatratze bedeckt (zum Glück stinkt sie nicht, wahrscheinlich wurde Tee verschüttet), dazu Dosenfleisch, Asche, Sonnenblumenkernschalen und Verpackungen. Ich stellte meine Tasche daneben und überlegte, auf dem Boden zu sitzen, aber auch der ist genauso dreckig.
Ich stehe da, Hand am Kopf.
"Scheiße! Scheiße! Scheiße! Wir müssen etwas tun."
Als ich die Küche betrete, bin ich entsetzt.
"Verdammte Scheiße! Mögen Biber nachts in deine Nasenlöcher kacken und sie mit Tannenzweigen verstopfen! Nikit, hast du das gesehen?"
Nikita lässt nur einen schweren Seufzer hören.
In der Küche türmt sich ein riesiger Haufen schmutziger Laken, Handtücher, alter verdorbener Lebensmittel, Müllsäcke, Wasserboxen und anderer Abfall.
In der Mitte der Küche steht ein weiteres, halb demontiertes Bett. Die Küche ist buchstäblich unzugänglich, kein Platz für eine Person, alles vollgestopft mit diesem Schrott.
Nikita und ich schütteln den Dreck von "meiner" Matratze. Sie muss gründlich ausgeklopft werden, zumindest der trockene Teil. Staub fliegt überall hin. Besser, ich nehme sie nach draußen.
"Nikit, das mache ich selbst, danke."
Die Wut in mir steigt, ich hatte fast vergessen, wie sich das anfühlt. Und jetzt stehe ich kurz davor, meinem neuen Freund ein "Verpiss dich" entgegenzuschleudern. Vielleicht sogar noch eine Beleidigung draufzusetzen. Einfach so, um den Ton zu halten. Ich muss alleine sein, mich beruhigen, nachdenken.
Ich war schon immer ein ruhiger Mensch. Meine Mutter sagte immer, ich hätte als Kind kaum geweint, geschrien, mich geärgert oder Wutanfälle gehabt.
Das Geheimnis ist einfach: Um mich zu beruhigen, muss ich alleine sein.
Also stehe ich draußen, allein, und klopfe die Matratze aus. Es ist nicht mehr "diese verfickte Matratze", sondern nur eine gewöhnliche.
Ein älterer Georgier nähert sich mir. Nun, nicht so alt, etwa 50 Jahre:
"Kannst du mir sagen, ob ich hier richtig bin?", fragt er und zeigt mir einen orangefarbenen Zettel. Anscheinend wurde er unserem Zimmer zugewiesen. Dem Zimmer, in dem jetzt für drei Personen zwei Matratzen und zwei Betten plus ein halb demontiertes Bett sind.
"Du bist richtig."
"Ich lasse dann mal meine Tasche hier und gehe zurück zu meinen Leuten."
"Kein Problem."
Als ich mit meiner jetzt nur noch normalen Matratze ins Zimmer zurückkehre, frage ich Nikita: "Hast du die anderen Zimmer überprüft?"
"Ja, sie sind besetzt."
"Wer wohnt da?"
"Geh und sieh selbst."
Ich betrete den ersten Raum. Drei Betten, alle gemacht. Ein kaukasischer Mann steht da, raucht. Er ist auch ein Georgier, wie ich später herausfand.
"Was willst du? Hier wohnen Leute. Raus hier", sagt er auf Russisch, ruhig, leise, träge, sieht mich intensiv von unten herauf an. Er folgt mir aus dem Raum.
Im zweiten Raum – zwei Betten, beide gemacht. Besetzt.
Ich versuche den dritten Raum, aber der Georgier blockiert meinen Weg.
"Raus hier. Besetzt. Nicht stören."
Ich stehe da und überlege. Wir sind zu zweit, und er ist allein. Nikita ist riesig wie ein Bulle.
Aber andererseits, wie viele sind sie? Selbst wenn der Raum jetzt leer ist, könnten abends vier weitere kommen und dann sind wir f… Als ich das erste Mal in seinen Raum ging, bemerkte ich ein Messer auf dem Tisch.
Ich lächle. Ein aufrichtiges, herzliches Lächeln. Dann drehe ich mich um und gehe zurück.
Genau in diesem Moment kehrt der ältere Georgier, den ich auf der Straße gesehen hatte, zurück. Er geht in den Raum mit dem faulen Georgier. Sie schließen die Tür und reden.
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Geschrieben von Daniel Turrel
Veröffentlicht am: 14.10.2025Profil ansehen
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