Kapitel 27. Nicht in unbekannte Gewässer tauchen*

17. Oktober
Als wir mit den Georgiern lebten, hatten wir alles. Wir lebten im Schokoladenleben. Jetzt haben wir auch alles, leben immer noch im Schokoladenleben. Aber mit Rosinen.
Anfangs tötete ich nur Kakerlaken. Es half nicht. Ich beschloss, klüger vorzugehen.
Ich begann, die Kakerlaken zu erschrecken und dann freizulassen. Sie sollten ihren Artgenossen erzählen, dass unser Zimmer ein gefährlicher Ort ist. Das funktionierte, denke ich, besser.
Am Morgen gingen wir mit den Ukrainern zur Verwaltung. Wir sollten aus den temporären Unterkünften im Familienbereich ausziehen und alle zusammen in einem Raum im Männerbereich untergebracht werden.
"Seid ihr eine Familie?"
"Nein."
"Dann warum habt ihr weiße Papiere?"
"Bukovski hat sie ausgestellt."
"Nun, Bukovski ist der Chef. Er kann alles machen. Wenn er sie ausgestellt hat, kann nur er euch zurück in den Männerbereich umsiedeln."
Wir dachten nach und beschlossen, dass sie uns einfach vergessen haben. Sie wollten uns am Montag umsiedeln, aber haben es vergessen.
Nun, gut. Die Ukrainer haben einen separaten Raum für acht Personen. Wir haben einen separaten Raum für zwei. Wir leben alle im Schokoladenleben. Großartig. Lassen wir die Verwaltung in Ruhe, lassen wir alles so, wie es ist. Wir müssen dringend Kakerlakenmittel kaufen.
Wir nennen Kakerlaken eigentlich nicht beim Namen. In anderen Häusern gibt es keine Kakerlaken, sie werden ausgerottet. Wir haben gesehen, wie das gemacht wird. Aber unser Haus wurde in Eile geöffnet, und sie haben es nicht geschafft, sie zentral zu beseitigen.
Ich weiß nicht, wie lange dieses Haus geschlossen war. Vielleicht ein Jahr, vielleicht fünf, vielleicht zehn oder sogar dreißig. Aber es ist offensichtlich, dass hier alles alt ist, sowohl die Möbel als auch die Sanitäreinrichtungen, etwa 50 Jahre alt.
Kurz gesagt, wir nennen Kakerlaken nicht Kakerlaken. Wir nennen sie "Das alte Übel."
Jetzt leben wir im Familienbereich, und es gibt hier einige Besonderheiten. Neben jedem Haus am Eingang sitzen neben den regulären Wächtern lokale Männer. Sie schützen das Haus vor Fremden. Genauer gesagt, sie schützen ihre Familien.
Wir werden genau beobachtet, wenn wir die Ukrainer besuchen.
Auch neue Leute begannen, in unser Gebäude zu ziehen. Familien und Behinderte. Es sind noch wenige. Ich denke, das Haus ist maximal zu 20 Prozent gefüllt.
Wir haben noch niemanden, der sitzt und wacht. Am Eingang steht nur ein alter Afghane. Er lebt hier mit seiner Enkelin. Wacht allein. Ich grüße ihn immer auf Deutsch. Er lächelt, erinnert sich schon, dass ich örtlich bin.
Direkt gegenüber von uns ist das Verwaltungsgebäude. Früher war es ein 20-minütiger Spaziergang, aber jetzt ist es direkt vor unserer Nase.
Etwa 100 Meter von uns entfernt ist ein separates Haus, in dem alleinstehende Mädchen wohnen. Die Wächter dort sind auch Mädchen. Männer dürfen nicht hinein.
Man muss sich mit jemandem absprechen, um die Wächterin abzulenken, damit man eintreten kann. Martha, das syrische Mädchen im Kleid, lebte in diesem Haus.
Nikita macht gerade sein Mittagsschläfchen. Ich ging, um Essen für zwei zu holen.
Ein Mädchen liegt auf der Straße. Liegt seltsam. Afghanen liegen oft einfach auf dem Boden, aber sie liegt mitten auf der Straße, auf dem Asphalt.
Schläft sie? Scheint nicht so, sie ist bewusstlos. Ich gehe hin.
Ein anderes Mädchen läuft zu ihr. Ihre Freundin oder Schwester. Sie hat eine Wasserflasche. Sie gießt es auf ihre Hände und spritzt es auf die Wangen des liegenden Mädchens:
"Rahme! Rahme!"
Leute beginnen sich zu versammeln. Sie atmet nicht. Sie ist wie eine Puppe.
Hallo, Afghanen, hattet ihr keinen Zivilschutzunterricht in der Schule?! 30 Druckmassagen, 2 Atemzüge, 30 Druckmassagen, 2 Atemzüge! Frau, warum schlägst du ihr auf die Wangen, wie soll das helfen?
Das denke ich. Aber ich stehe da wie ein Baumstamm, tue nichts. Schaue nur zu.
Das hätte mein großer Moment sein können. Aber ich habe den Mut verloren.
Die Leute hier sind wild. Manche haben zum ersten Mal in ihrem Leben Zivilisation gesehen, sitzen immer noch verkehrt auf der Toilette. Und das Mädchen ist schön. Sehr schön.
Wenn man noch nie gesehen hat, wie künstliche Beatmung und indirekte Herzmassage gemacht werden, und plötzlich läuft irgendein Kerl heran und beginnt, eine halbtote Schönheit zu küssen und ihre Brüste zu begrapschen, dann ist das meiner Meinung nach ein völlig guter Grund, diesem Perversen den Kopf mit einem scheiß Stein einzuschlagen.
Und es ist unklar, ob dieses Mädchen einen Mann hat oder nicht, ob man sie überhaupt berühren darf.
Die anderen Männer stehen auch da, berühren sie nicht. Nur einer sagte ihrer Freundin mit nassen Handflächen: "Dreh sie auf den Bauch."
Ich kenne diese Technik auch. So retten sie das Leben von Drogensüchtigen, damit sie nicht in ihrer eigenen Kotze ersticken. Anscheinend diskutieren sie im Zivilschutzunterricht etwas andere Themen.
Ich sehe Leute in grünen Westen laufen, drei von ihnen. Die leitenden Wächter hier tragen grüne Westen.
Nun, wenn drei Chefs laufen, dann werden sie definitiv ohne mich zurechtkommen.
Wäre es nicht ein schönes junges Mädchen, sondern ein Mann oder sogar ein hässliches Mädchen, eine alte Frau, dann hätte man ihr viel schneller geholfen. Und ich habe mich erschrocken. Verdammt.
„Nicht in unbekannte Gewässer tauchen“ — ein obskures Lied der kultigen sowjetischen Punkband 'Sektor Gaza’.
Kommentare
Was denkst du?
Melde dich an um deine Gedanken zu teilen.
Geschrieben von Daniel Turrel
Veröffentlicht am: 20.11.2025Profil ansehen
Mehr Stories von Daniel Turrel
Kapitel 30. Mi Scusi
20. Oktober
20.11.2025 • Lesezeit: 5 min
Kapitel 29. 5G
19. Oktober
20.11.2025 • Lesezeit: 5 min
Kapitel 28. Oscars Liste
18. Oktober
20.11.2025 • Lesezeit: 5 min
Kapitel 26. Flűggåənk∂€čhiœβøl∫ên
16. Oktober
20.11.2025 • Lesezeit: 6 min
Kapitel 25. Sie wurden geschickt, um zu beobachten, aber sie hören zu*
15. Oktober
20.11.2025 • Lesezeit: 6 min
Kapitel 24. Dushan, Debord, Fantomas*
14. Oktober, Morgen
20.11.2025 • Lesezeit: 8 min
Beliebte Stories auf Kursiv
Das Geldsystem
ZITAT DER GEBRÜDER ROTHSCHILD ZUM GELDSYSTEM VON 1863:

B M K • 29.2.2024 • Lesezeit: 3 min
1-07/06 kleines Erwachen
Wenn man in einer fremden Stadt durch die Straßen schlendert und jede Straße, jeder Platz neu und genau deswegen so flüchtig ist, dann gibt es diesen Moment in dem man aus einer neuen Richtung wieder auf einen altbekannten Weg zurückfindet - es fühlt sich an wie ein kleines Erwachen.
Jo Goe • 8.6.2025 • Lesezeit: 1 min
Strategie trifft Nachhaltigkeit - oder -Warum ist ein Business Netzwerk der schlüssel zum Nachhaltigen Erfolg
Business Networking: Der Schlüssel zu langfristigem Erfolg

Dittmar Wilfling • 24.3.2025 • Lesezeit: 3 min
Bilder sagen mehr als tausend Worte
Mit Worten lässt sich einiges kommunizieren, aber leider nicht alles. Deshalb freut es mich, dass Kursiv ab heute auch Bilder unterstützt. Damit kann der Text etwas untermalt werden und auch Anleitungen zu gewissen Themen lassen sich jetzt hier umsetzen. Man findet aktuell 2 verschiedene Möglichkeiten Bilder hochzuladen. Es gibt jetzt ein Profilbild und es lassen sich Bilder im Fließtext in deinen Stories hinzufügen.


Robin Ostner • 21.1.2024 • Lesezeit: 4 min

Mein "Warum ich schreibe"
Ich schreibe, um das Unsichtbare sichtbar zu machen.
Manuela Frenzel • 14.3.2025 • Lesezeit: 2 min
Strategie trifft Nachhaltigkeit: oder - Warum nachhaltiges Business Development für KMUs zur Überlebensstrategie wird
Es war ein grauer Novembermorgen, irgendwo in einem Produktionsbüro in den Alpen. Vor mir: der Geschäftsführer eines traditionsreichen Sportartikelunternehmens, seit Generationen familiengeführt. Wir sprachen über kreislauffähige Produktdesigns, CO₂-Reduktion und neue Märkte. Er sah mich lange an und sagte: „Das klingt ja alles gut – aber unsere Kunden kaufen wegen Performance, nicht wegen Moral.“

Dittmar Wilfling • 3.6.2025 • Lesezeit: 5 min