Kapitel 23. Das Wichtigste ist, sich nicht einzunässen*

14. Oktober, Nacht
Ich sitze in einem kleinen Zimmer, das eher einem Hotelzimmer ähnelt. Die Tür ist mit einem Bett verbarrikadiert, um den Eintritt zu erschweren. Ich trage meinen Mantel, Chucks, Straßenkleidung.
Ich habe einen großen blauen Polyethylenbeutel auf das Bett gestellt, ihn gegen die Tür gelehnt. Ich werde darauf schlafen, genau so. Wenn ich überhaupt schlafen werde.
Ich kann nicht glauben, dass ich da trocken rauskomme. Aber trotzdem, es ist besser, an etwas zu glauben.
Schade, dass ich kein Messer habe. Früher trug ich immer ein Messer, und sie haben es mir nicht einmal in den Flughäfen Zentraleuropas abgenommen. Aber an den polnischen Flughäfen haben sie mir nach und nach alle Messer weggenommen.
Seitdem trage ich nur noch ein Mini-Klauenmesser von AliExpress. Flughafenscanner erkennen es nicht.
Es passt auf einen Finger, kann Früchte schneiden, Dosen öffnen. Aber in einem Kampf ist es absolut nutzlos, man schneidet sich eher den eigenen Finger ab. Ich halte es fest in meiner Hand.
Diese Kakerlaken kriechen überall herum, sogar auf meinen Beinen kriechen. An der Wand sieht es aus wie ein Sternenhimmel, nur aus Kakerlaken. Das sind meine Bros für die Nacht.
Die Situation wird wie eine billige Detektivgeschichte. Also beschreibe ich sie wie in einer billigen Detektivgeschichte. Ich fange vom Ende an, dann so "Wie bin ich in eine solche Situation geraten?". Ich kann sowieso nicht schlafen. Sitze hier, schreibe.
Nikita denkt, alles geriet außer Kontrolle, nachdem ich mit der Hand auf den Tisch geschlagen habe. Ich denke, es war viel früher.
In der Schule wurde ich eine Zeit lang gemobbt. Aber damals gab es das Wort "Mobbing" noch nicht, es hatte einfach keinen Namen. Wir nannten es „Leben“.
Ich habe immer geschwiegen. Nicht weil ich Angst hatte, sondern weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Ich wusste es einfach nicht.
Meine Eltern haben mich gelehrt, anständig und bescheiden zu sein. Das konnte ich, half aber nicht wirklich gegen Mobbing.
Es ging so weiter, bis einer der Mobber, Yura, mein bester Freund wurde. Er mochte, wie ich zeichnete, mochte, dass ich Gitarre spielte, er bat mich, ihm das beizubringen.
Er beobachtete immer, wie ich auf Sticheleien reagierte, und fragte eines Tages:
“Warum reagierst du nicht?"
„Wie soll ich reagieren?"
„Wie, wie? Du musst kämpfen. Wenn du kämpfst nicht, lassen sie dich nicht in Ruhe.“
Und es war auch wie im Film. Ich forderte den größten Mobber zu einem "Duell" hinter der Schule heraus. Er war einen Kopf und eine halbe Kopf größer als ich, der Größte in unserer Klasse.
Etwa 50 Leute versammelten sich, um unseren Kampf zu sehen.
Yura gab mir heimlich ein Schloss. Ein kleines Schloss, unsichtbar, wenn man die Faust ballt. Aber schwer.
„Nass dich nicht ein. Warte nicht, schlage zuerst. Wenn etwas ist, greife ich ein.“
Ich schlug zu. Der Große fiel sofort um. Das Publikum war ziemlich enttäuscht, der Kampf endete zu schnell.
Seitdem hat mir in unserer Schule niemand mehr ein böses Wort gesagt. Niemand wollte mehr Ärger mit mir. So einfach war das.
Ich denke, da hat alles angefangen. Bis dahin war ich ruhig und bescheiden.
13. Oktober, Abend
Ich beschloss, den Süchtigen Sancho aus unserer Wohnung zu vertreiben. Oder ihn zur Arbeit zu erziehen, damit er mit allen aufräumt und sich nicht unter sich scheißt. Ich ging in sein Zimmer:
„Sancho, ich habe die Ukrainer rausgeworfen. Komm, hilf uns alles aufzuräumen.“
„Nein. Es ist mir scheißegal.“
„Was meinst du scheißegal? Hast du letzte Nacht vor Glück geschrien? Ich habe unser gemeinsames Problem gelöst. Jetzt hilfst du uns.“
„Es ist mir scheißegal!"
Er kam aus dem Zimmer. Wollte eine Matratze nehmen. Ich versperrte ihm den Weg.
„Wenn du eine Matratze willst, hilf uns beim Aufräumen."
„Es ist mir scheißegal!!“
„Nun, wenn es dir scheißegal ist, dann bist du mir auch scheißegal, gefickten Aschenputtel! Ich habe die Ukrainer rausgeworfen, und all diese Plätze und Matratzen gehören jetzt mir!“
Er geht herum, schielt auf die Matratzen. Aber nähert sich nicht. Hat Angst.
Nikita ist auch im großen Zimmer bei uns. Er sieht, was passiert, bereitet sich vorsichtshalber auf körperliche Intervention vor. Sancho ging zurück in sein Zimmer.
David kehrt mit Tito und Mose zurück, Guram schließt sich ihnen an. Ich übernehme das Kommando: „Das räumen wir weg, das legen wir aus, das bewegen wir.“ Die Georgier wollten mit mir und Nikita alles erledigen, aber Tito steht still, tut nichts.
Die anderen Georgier sehen ihn an und hören auch auf, etwas zu tun. Sie verteilen sich in ihre Zimmer. Ich versuche, sie zu sammeln, daraufhin erhalte ich nur die Antwort:
„Es wird warten.“
Jetzt verstehe ich schon, dass Tito mich als Rivalen sah. Er war es gewohnt, der Älteste zu sein, zumindest unter den Georgiern. Aber damals dachte ich, er sei einfach ein Arschloch.
Obwohl er anfangs am hilfreichsten war. Aber allmählich fing er an, hauptsächlich zu kommandieren.
Nikita hatte auch seine Probleme mit ihm. Nikita ist riesig, wie ein Bulldozer (ich habe die Tiervergleiche aufgebraucht, gehe zu unbelebten Objekten über). Tito bat ihn, Wasser für alle zu tragen. Das sind 2 Kisten Wasser, 24 Kilogramm.
Es fiel ihm anfangs nicht schwer, aber dann begann er, etwas zu ahnen und trug es nicht immer. Tito war beleidigt.
Also, jetzt haben sowohl ich als auch Nikita Probleme in diesem Haus. Ein schwelender Konflikt. Bis dahin dachte ich, die Georgier würden mich gegen Sancho unterstützen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.
Da es keine Plätze für Männer in der Siedlung gab, wurden die Ukrainer in einer temporären Unterkunft im Familienbereich untergebracht. Nur für das Wochenende, am Montag wird ein neuer Platz zugewiesen.
Die Ukrainer luden mich und Nikita ein, mit ihnen einzuziehen. Damit wir zehn sofort das ganze Zimmer belegen, riefen ein paar anständige Bekannte dazu, und wir hätten keine anderen Nachbarn.
Wir haben darüber nachgedacht und beschlossen, zuzustimmen. Wir müssen nur das Wochenende ruhig überstehen. Und am Montag richten wir einen Tisch für die Georgier her und verabschieden uns friedlich.
Morgen fährt Nikita in die Stadt zu seiner Familie, kommt am Montag zurück. Alles sollte reibungslos verlaufen.
14. Oktober. Morgen
Sancho hat all seine Sachen gepackt und das Zimmer verlassen.
„Das Wichtigste ist, sich nicht einzunässen“ — der Titel eines Liedes der russischen Punkband „Smekh“ (Lachen).
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Geschrieben von Daniel Turrel
Veröffentlicht am: 20.11.2025Profil ansehen
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