Kursiv Platform Logokursiv.

Der Anfang der Geschichte von Heimat, Identität und Sprache

HE
Henry Ertner 14.10.2025 • Lesezeit: 4 min
|

Mein Name ist Henry Ertner, herzlichen Willkommen auf meinem Blog über Heritage Language and Sudetenland. Im Herbst 2017 lag mein Vater im Krankenhaus. Während eines Besuchs fragte ich ihn, was er sich noch wünsche. Seine Antwort war einfach und klar: „Ich will in die Berge! Du wohnst doch im Riesengebirge, aber ich will die Alpen sehen, und nicht nur einmal!“ Diese Worte wurden zum Ausgangspunkt einer Forschungsreise, die tief in die Geschichte der Sudetendeutschen führen sollte.

Zwischen zwei Sprachen: Aufwachsen als Enkelkind der Sudetendeutschen

Das Riesengebirge, einst Heimat deutschsprachiger Gemeinden, trägt noch heute die Spuren einer vergangenen Zeit. Hier lebten über Jahrhunderte Deutsche, Juden und Tschechen Seite an Seite, teilten Land und Kultur, bis die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und seine Folgen diese Gemeinschaft für immer veränderten. Nach 1945 wurden etwa drei Millionen Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben. Doch etwa 250.000 durften bleiben – unter ihnen meine Großeltern.

Mein Großvater Heinrich Ertner und meine Großmutter Thekla Ertner gehörten zu den wenigen, die nicht ausgesiedelt wurden, während zehn ihrer Geschwister das Land verlassen mussten. Diese Familiengeschichte prägte mein Interesse an der deutschen Sprache und Kultur, auch wenn ich als Kind zunächst nur Tschechisch sprach. Meine Eltern hatten ihre Gründe dafür – „es ging damals anders nicht“, sagten sie später.

Die Großeltern hingegen sprachen nur Deutsch mit mir – sie hatten die tschechische Sprache nie richtig gelernt. Diese sprachliche Dualität wurde zu einem prägenden Element meiner Kindheit. Während meiner Schulzeit in Tschechien ahnte ich noch nicht, dass diese persönliche Geschichte Teil eines größeren Narrativs war. Erst während meines Studiums an der Universität in Liberec (früher Reichenberg) begann ich, über die Grenzen Tschechiens hinauszublicken.

Von der persönlichen Erfahrung zur Forschungsfrage

Der Weg führte mich nach Bayern (1998), wo ich zunächst die deutsche Sprache auf universitärem Niveau erlernen musste. Doch das Lernen fühlte sich seltsam vertraut an – als würde ich mich an etwas erinnern, was nur kurzzeitig in Vergessenheit geraten war. 2004 war ich mit meinem Magisterstudium fertig und wie es so ist, hat mich die Liebe zurück nach Prag gebracht. In 2018 nach dem Zwischenfall mit meinem Vater habe ich mit meiner Dissertation „Deutsch als „Heritage Language“ im Riesengebirge an der Universität Augsburg bei Prof. Dr. Alfred Wildfeuer begonnen.

Heute würde ich mich als „Heritage Speaker“ der deutschen Sprache bezeichnen – jemand, der eine kulturelle und sprachliche Verbindung zu seinen Wurzeln hat. Diese persönliche Erfahrung führte zu der Frage, ob es auch andere Menschen gibt, die Ähnliches erlebt haben.

  • Wie viele der nicht ausgesiedelten Sudetendeutschen haben ihre Sprache und Kultur an die nächsten Generationen weitergegeben?

  • Unter welchen Bedingungen geschah diese Übertragung, und was bedeutet das für die Identität der Nachkommen?

Das traditionelle Verständnis besagt, dass die „Heritage Language“ – die Sprache des kulturellen Erbes – in der dritten Generation verloren geht.

Doch stimmt das? Diese Frage wurde zum Kern meiner Forschung. Im Riesengebirge, wo einst deutsche Bergleute in der Schatzlarer Grube arbeiteten und wo meine Familie ihre Wurzeln hat, begann ich nach Antworten zu suchen. In der Zwischenzeit haben wir aber auch mit meinem Vater die Alpen besucht und wie sich es sowohl in Bayern als auch in Tschechien gehört ein Bierchen getrunken.

Eine Reise durch Zeit und Sprache: Das Forschungsprojekt

Die Geschichte der Sudetendeutschen ist mehr als nur eine Geschichte von Vertreibung und Verlust. Sie ist auch eine Geschichte von Bewahrung und Anpassung, von Menschen, die zwischen den Kulturen lebten und leben. Ihre Erfahrungen werfen wichtige Fragen auf:

  • Wie überlebt eine Sprache unter dem Druck der Dominanz einer anderen?

  • Wie formt sich Identität, wenn die kulturellen Wurzeln in verschiedene Richtungen weisen?

Diese Fragen führten schließlich zu meiner Dissertation „Deutsch als „Heritage Language“ im Riesengebirge“. Es ist eine Untersuchung, die nicht nur die linguistischen Aspekte betrachtet, sondern auch die menschlichen Geschichten dahinter – Geschichten wie die meiner Familie, die exemplarisch für viele andere stehen. Deutsch war immer da – versteckt in den Geschichten meiner Großeltern und Eltern, in den Erinnerungen an eine Zeit, die ich selbst nicht erlebt habe.

Das Riesengebirge ist nicht nur ein Ort in einer Landkarte. Es ist ein Stück Geschichte, das mich geprägt hat. Meine Dissertation ist für mich deshalb mehr als eine wissenschaftliche Arbeit – sie ist ein persönliches Projekt. Ein Versuch, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden. Mein Vater hat die Alpen noch gesehen, bevor er uns verließ. Und seine Sehnsucht nach den Bergen wurde zu einem Forschungsprojekt, das die vergessene Welt der Sudetendeutschen und ihrer Nachkommen erkundet – eine Welt, die mehr denn je relevant ist in einem Europa, das noch immer nach Wegen sucht, mit seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt umzugehen.

Deutsch Der Anfang der Geschichte von Heimat, Identität und Sprache

English The Beginning of the Story Homeland, Identity, and Language

Česky Začátek příběhu o domově, identitě a jazyce

|

Kommentare

Was denkst du?

Melde dich an um deine Gedanken zu teilen.
HE

Geschrieben von Henry Ertner

Veröffentlicht am: 14.10.2025
Profil ansehen

Als Böhme mit sudetendeutschen Wurzeln verkörpere ich die enge historische Verbindung zwischen der deutschen und der tschechischen Kultur. Das Erbe meiner sudetendeutschen und tschechischen Familie hat mein Verständnis für die komplexen sprachlichen und kulturellen Dynamiken zwischen beiden Ländern geprägt.

Wolltest du auch schon mal einen Artikel schreiben?

Beliebte Stories auf Kursiv

Bilder sagen mehr als tausend Worte

Mit Worten lässt sich einiges kommunizieren, aber leider nicht alles. Deshalb freut es mich, dass Kursiv ab heute auch Bilder unterstützt. Damit kann der Text etwas untermalt werden und auch Anleitungen zu gewissen Themen lassen sich jetzt hier umsetzen. Man findet aktuell 2 verschiedene Möglichkeiten Bilder hochzuladen. Es gibt jetzt ein Profilbild und es lassen sich Bilder im Fließtext in deinen Stories hinzufügen.

Robin Ostner 21.1.2024 Lesezeit: 4 min

1-07/06 kleines Erwachen

Wenn man in einer fremden Stadt durch die Straßen schlendert und jede Straße, jeder Platz neu und genau deswegen so flüchtig ist, dann gibt es diesen Moment in dem man aus einer neuen Richtung wieder auf einen altbekannten Weg zurückfindet - es fühlt sich an wie ein kleines Erwachen.

JG

Jo Goe 8.6.2025 Lesezeit: 1 min

Das Geldsystem

ZITAT DER GEBRÜDER ROTHSCHILD ZUM GELDSYSTEM VON 1863:

B M K 29.2.2024 Lesezeit: 3 min

Strategie trifft Nachhaltigkeit - oder -Warum ist ein Business Netzwerk der schlüssel zum Nachhaltigen Erfolg

Business Networking: Der Schlüssel zu langfristigem Erfolg

Dittmar Wilfling 24.3.2025 Lesezeit: 3 min

Die Teutonensaga

Kapitel 1 - Eine barbarische Kindheit

Bunny Kill 28.2.2024 Lesezeit: 24 min

 Strategie trifft Nachhaltigkeit: oder - Warum nachhaltiges Business Development für KMUs zur Überlebensstrategie wird

Es war ein grauer Novembermorgen, irgendwo in einem Produktionsbüro in den Alpen. Vor mir: der Geschäftsführer eines traditionsreichen Sportartikelunternehmens, seit Generationen familiengeführt. Wir sprachen über kreislauffähige Produktdesigns, CO₂-Reduktion und neue Märkte. Er sah mich lange an und sagte: „Das klingt ja alles gut – aber unsere Kunden kaufen wegen Performance, nicht wegen Moral.“

Dittmar Wilfling 3.6.2025 Lesezeit: 5 min