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Böhmische Dörfer: Dr. Ortfried Kotzians Streifzug durch die deutsch-tschechische Geschichte

HE
Henry Ertner 14.10.2025 • Lesezeit: 4 min
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27. 11. 2024

Das Wochenseminar „Deutsch-tschechische Wechselbeziehungen – grenzüberschreitende Konzepte und Projekte“ vom 12. bis 15. November 2024 brachte auch den Vortrag von Herrn Dr. Kotzian. Ich Henry Ertner hatte das Vergnügen auch mit dabei zu sein. Kennen Sie die Redewendung „Das sind für mich böhmische Dörfer“? Sie beschreibt etwas Unverständliches, Fremdes. Ironischerweise spiegelt sie genau das wider, was Dr. Ortfried Kotzian in seinem fesselnden Vortrag bemängelt: Unser mangelndes Wissen über die jahrhundertealte Verflechtung deutscher und tschechischer Geschichte.

Von Namen und Identitäten

Dr. Kotzian beginnt seinen Vortrag mit einer amüsanten Anekdote über seinen eigenen Vornamen. „Ortfried“ – eine Erfindung seiner Mutter, zusammengesetzt aus den Teilen der Namen ihrer Brüder Ort- und -fried. Seine katholischen Religionslehrer suchten verzweifelt nach einem heiligen Ortfried in dicken Kodexen – erfolglos. Der junge Kotzian erklärte schließlich:

„Wenn Sie einen heiligen Ortfried wollen, müssen Sie warten, bis ich heilig gesprochen werde.“

Auch sein Nachname „Kotzian“ ist bezeichnend für die deutsch-tschechische Vermischung. Der Name existiert in verschiedenen slawischen Sprachen, wurde aber im Laufe der Zeit „eingedeutscht“ – von K-O-C-Y-A-N zu K-O-T-Z-I-A-N. Diese Namensgeschichte ist symptomatisch für die gesamte Region:

„Wenn Sie ins Sudetendeutsche Museum in München gehen und sich die Kabinettslisten der ersten Tschechoslowakei anschauen, dann fällt Ihnen etwas Besonderes auf: Die deutschen Minister haben fast alle tschechische Namen. Und viele bedeutende tschechische Politiker hatten deutsche Namen wie Václav Klaus oder Klement Gottwald.“

Das Herz Europas

Besonders faszinierend ist Dr. Kotzians Beschreibung Böhmens als „Herzland Europas“. Er zitiert einen historischen Stich von 1620, der Europa als allegorische Frauenfigur darstellt – mit einem grünen Kranz im Zentrum, beschriftet mit „Bohemia“.

Europa Regina

Mit einem spielerischen geografischen Experiment veranschaulicht er diese zentrale Lage:

Nehmen Sie einen Zirkel, stechen Sie bei Prag ein und ziehen Sie Kreise. Der erste Kreis umfasst Berlin, Wien und München. Der nächstgrößere erreicht Paris, Stockholm und Kiew. Böhmen liegt tatsächlich im Herzen Europas – eine Position, die seine Geschichte entscheidend prägte.

Das Bekenntnisprinzip: Wer bin ich?

Ein Schlüsselkonzept in Dr. Kotzians Vortrag ist das „Bekenntnisprinzip“ von 1905. Angesichts der sprachlichen und kulturellen Vermischung stellte sich die Frage: Wie bestimmt man, wer Deutscher und wer Tscheche ist? Die Antwort war revolutionär: Jeder Mensch musste selbst erklären, zu welcher Nationalität er sich zugehörig fühlte.

„Ein Mensch konnte Březina heißen und sich als Deutscher fühlen, oder er konnte Klaus heißen und sich als Tscheche fühlen.“

Besonders bemerkenswert ist Dr. Kotzians Schilderung des „Mährischen Ausgleichs“ von 1905 – einem heute fast vergessenen Modell für das Zusammenleben verschiedener Volksgruppen. In Mähren einigten sich Deutsche und Tschechen auf ein System, das beiden Gruppen kulturelle Autonomie und proportionale politische Vertretung garantierte. Dieses Modell hätte als Vorbild dienen können – nicht nur für Böhmen, sondern auch für andere multiethnische Regionen Europas. Leider wurde es durch den Ersten Weltkrieg und den aufkommenden Nationalismus verdrängt.

Die Kraft der Mythen

Mit feinem Humor entlarvt Dr. Kotzian die absurden Debatten des 19. Jahrhunderts:

„Die blödeste Diskussion aller Zeiten war die Frage, wer war früher in Böhmen? Die Deutschen oder die Slawen?“

Tschechische Nationalisten „entdeckten“ angeblich uralte Handschriften, die beweisen sollten, dass Slawen zuerst da waren. Deutsche Professoren entwickelten Gegentheorien. Dr. Kotzian kommentiert trocken:

„Im Endeffekt ist es doch vollkommen egal, wer früher da war. Man muss ja hier und jetzt miteinander auskommen.“

Nachbarschaft als Schicksal

Dr. Kotzians Vortrag endet mit einem Zitat von Johann Höhn, der 1992 in Prag sprach: „Gott hat uns als Nachbarn gewollt.“ Doch Dr. Kotzian ergänzt nachdenklich:

„Aber wir Deutsche und auch Tschechen haben in den böhmischen Ländern alles getan, keine Nachbarn mehr sein zu müssen.“

In seinem Schlusswort formuliert Dr. Kotzian eine bemerkenswerte Aufgabe für die Sudetendeutschen:

„Die Aufgabe der Sudetendeutschen ist es, die Tschechen in die Lage zu versetzen, ihre eigene Geschichte aufarbeiten zu können.“

Dr. Kotzians Vortrag ist weit mehr als eine Geschichtsstunde. Er ist ein Plädoyer für gegenseitiges Verständnis, für das Überwinden nationalistischer Mythen und für die Erkenntnis, dass Deutsche und Tschechen durch ihre gemeinsame Geschichte untrennbar verbunden sind – ob sie wollen oder nicht.

Nachbarschaft ist eben Schicksal.

Deutsch Böhmische Dörfer: Dr. Ortfried Kotzians Streifzug durch die deutsch-tschechische Geschichte

English Böhmische Dörfer: Dr. Ortfried Kotzian’s Journey Through German-Czech History 

Česky Böhmische Dörfer: Poutavý průřez německo-českými dějinami od Dr. Ortfried Kotzian

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Geschrieben von Henry Ertner

Veröffentlicht am: 14.10.2025
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Als Böhme mit sudetendeutschen Wurzeln verkörpere ich die enge historische Verbindung zwischen der deutschen und der tschechischen Kultur. Das Erbe meiner sudetendeutschen und tschechischen Familie hat mein Verständnis für die komplexen sprachlichen und kulturellen Dynamiken zwischen beiden Ländern geprägt.

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